Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Henry Günther - Deutschland

E-Mail vom 27.02.2004

 

Lieber Reinhard,

in Deinem Brief vom 26. Januar fragst Du mich in der Eingangsfrage "Warum machst Du Künstlerbücher?" - und ich erinnere mich hierbei sehr an die frühe Zeit meines Literaturstudiums, in der ich der Frage nachging Warum schreibt man Gedichte? Eine Frage, die ich bis heute nicht beantworten kann und immer mehr dazu neige, sie nicht beantworten zu wollen; auch in Erinnerung an Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter".

So sehr wie Sprache und Bild sich in der sinnlichen Erfahrung überlagern, bestimmen sie zugleich auch unseren physischen und emotionalen Zustand. Ich habe also weder Bilder noch Texte im Kopf, wenn ich an neue Künstlerbücher denken sollte. Das Beziehungsgeflecht an sich ist die Quelle der Produktion. Ihre Umsetzung sind lediglich dirigistische, technische und logistische Handlungen, ruhend in der philosophischen Erkenntnis Wissen ist Macht! und eingespeist in die lyrische Welt der Poesie . . .

 
 

VON DER WEISHEIT DES LÜGNERS

Die Wahrheit knirscht nicht im Getriebe.

Geleerte Teller füllen Töpfe gar
was wahr ist, quillt kein Kloß dich auf
und über angestaute Stunden Mut
bekunden Zeugen deine weiße Haut.

Mit taugeflochtnen Zöpfen
durchschwimmst du ebenes Land
und überschreitest Brücken
nur mit verkrampfter Hand.

Aus Wipfeln abgekohlter Dächer
entfliehen Wolkenmonde, matt
die kehren Heim in Totenstille
und haben Ungeduld gebannt.

Süß lachende Verstecke
die krümmen sich vor Hohn.
Und fern die Augenblicke
den Orgien beizuwohnen.

Nur einmal, unterm Galgen
wo kein Verlangen bleibt
sich am gedeckten Tisch zu laben

was wahr ist, krümmt kein Haar dich um.

 

Mit herzlichen Grüßen
Dein Freund und Buchmacher
Henry

27. Februar 2004, 04.30 Uhr