Aus meinem Sudel-Notebook
Ein Dauerbrenner in jeder Beziehung, in der es nur einen Büchernarren
gibt, ist die Erörterung der Frage: wie viele Bücher braucht der Mensch? Unternehme ich sie mit meiner
Frau, so kenne ich ihre Antwort schon im Voraus, denn sie wird, ohne mit der Wimper zu zucken,
feststellen: auf alle Fälle hast du schon genug. Nun, ich denke, auch in dieser Frage
entscheiden letzten Endes die zwei wichtigen Dinge: Geist und Geld. Hat man genügend Geist, kann man
auf Bücher ganz und gar verzichten, wie der Sonderling Mentelli. Hat man genügend Geld, kann man
sich nach Herzenslust Bücher kaufen, wie die Regensburger Thurn und Taxis, ob man die nun alle braucht
oder nicht. Der Durchschnittsmensch, wie ich zum Beispiel, kann auf Bücher nicht verzichten, hat aber
meist zu wenig davon.
Um dem abzuhelfen verfällt er unter Umständen auf die Idee, selbst welche schreiben zu wollen, wozu
er dann auch wieder Bücher braucht, und gibt sich Träumereien hin wie weiland Arno Schmidt:
"...wenn einmal, irgendwann=einmal, ein Mäzen=oder=so auftauchen wird, der
mir <um=meiner=selbst=willen>- es ist schwer; ich weiß wohl; ich selbst würd's auch nicht
tun- eine monatliche Rente von, nu, sagen wir, 500 Mark <auswirft>; und ich dann- ach, es
fallen einem gleich Ausdrücke wie <Lebensabend> ein, und <buntgeblümter Schlafrock>, <The
echoing Green>, <Der Schnee tröpfelte emsig vom Dach>, <Die Nacht wird kalt, sagte der alte
Rudolph, vom Wetterfähnlein kreischt es herunter, die Eichen fangen zu rauschen an, lege mehr
Holz an den Herd, Alwin.>- tcha, und jetzt hab'ich natürlich den Faden verloren." Also,- wie viele
Bücher braucht der Mensch?
Eine, deren Familie jahrhundertelang Kulturträgerin war, die Fürstin Gloria von Thurn und Taxis,
sollte es wissen. Sie selbst besitzt, größtenteils ererbt, 165.000: "Jeder Haushalt sollte eine,
wenn auch kleine, Bibliothek haben. Die Bibel, den Talmud oder den Koran sollten Sie, je nachdem,
welcher Religion Sie angehören, ebenfalls im Haus haben. Die Mindestanzahl an Büchern, die eine
solche Bibliothek umfassen sollte, sinkt stetig. Der erste Lord Rothschild fragte einst einen
Freund: "Wie viele Bücher besitzt ein Gentleman?" Und der antwortete: "Zwanzigtausend". Heutzutage
liegt die Mindestzahl etwa bei eintausend Bänden."
(Das klingt für's erste gar nicht übel. Es geht noch weiter.)
"Wer in Wohnungen mehr Videos, CDs
und DVDs als Bücher hat, sollte anfangen, sich Sorgen zu machen, oder sich erkundigen, wo er in
seiner Stadt Bücher zum Kilopreis erwerben kann, um zumindest kosmetisch Abhilfe zu schaffen. Ein
paar Werke der Weltliteratur sollte man zu Hause haben .... Und einige Werke sollte man darüber
hinaus tatsächlich auch gelesen haben, dazu gehören ...".
So weit die Fürstin. Die Listen der unbedingt zu empfehlenden Bücher sehen, abhängig vom Verfasser,
sehr verschieden aus. Nach Reich-Ranicki, Schwanitz oder Christiane Zschirmt braucht man keine
Hundert. Damit kann ich meiner Frau nicht kommen, damit säge ich bloß meinen eigenen Ast ab.
Möglicherweise hilft ein Blick in die Bücherschränke prominenter Kopfarbeiter. Gleims Bibliothek
(wer kennt noch Gleim?) war 10.000 Bände stark, 27 Inkunabeln befanden sich darunter! Goethe, man
sollte meinen, er hätte mehr gehabt, trug 6 ½ Tausend Bücher zusammen, Gerhart Hauptmann um
die 7.000, Brecht kam mit der Hälfte aus, die Weigel hatte aber auch noch 2.000 Stück.
Die finanzstarken Sammler warten da mit anderen Zahlen auf. Fürst Pückler konnte sich in Branitz
durch 10.000 Bände lesen, aber er schriftstellerte immerhin auch.
Metternich konnte im Schloß Kynžvart, früher Königswart, über 37.000 Bände verfügen
(kam der denn überhaupt zum Lesen?!), die Bücherei des Regensburger Postmeisters
erwähnte ich bereits. Die wird allerdings noch übertroffen von der des Grafen
Działyński auf Kórnik, einem sehr schönen Schinkel-Gehäuse bei Posen, jetzt Poznan.
Darin sind rund 200.000 Bände versammelt, anbei 134 Inkunabeln.
Eine Sammlung fällt wiederum überraschend aus dem Rahmen: Friedrichs des II.
planmäßig angelegte Bibliothek in Sanssouci nämlich beherbergt nur 2.000 Bände.
Vermutlich hat er seine Bibliothek so zusammentragen lassen wie seine Galerie, Meter für Meter,
bis die Wände voll waren; Uniformen drum und fertig. Allerdings soll er anderswo auch noch
Bücher gehabt haben. Aber viel Zeit hatte der Mann ja auch nicht.
Professor Werner Klemke, ein sammelnder Kopf- und Handarbeiter, gehört unbedingt in meine Aufzählung.
Klemkes Berliner Bücherparadies wurde in den "Marginalien" 77 / 1980 eindrucksvoll beschrieben. "In
einem alten Mietshaus hat er eine große Etagenwohnung, dazu noch ehemalige Ladenräume, allesamt mit
Büchern belebt, 35.000 Bände seiner Bibliothek brauchen Platz", heißt es da unter anderem. Mit dem
Satz im Kopf und den Marginalien in der Tasche zog ich einstmals zur Sprechstunde meines
Wohnungsamtes; außerdem dabei hatte ich, ich weiß nicht mehr genau was, jedenfalls irgend
etwas Markiges, das Parteistatut der SED oder etwas Ähnliches, in dem es um die Einheit von
Arbeiten, Leben, Wohnen, um Kultur usw. ging, um "ideologischen Druck" zu erzeugen. Und es
funktionierte. Ich bekam bald eine richtige Wohnung, zwar zum Selberbasteln, also Ausbauen,
aber immerhin. Die Wohnung war, als wir sie dann endlich fertig hatten, geräumig und wunderschön,
hatte von morgens bis abends Sonne und Platz für alle meine Bücher. Vom Schreibtisch aus guckte
ich ins Grüne.
In den selben "Marginalien" wird auch sehr hübsch die kleine Bibliothek des Flämingbauern Andreas
Bölke aus dem 18. Jahrhundert behandelt. Der Bauer Bölke besaß 10 Bücher: 1 Bibel, 6 weitere
geistliche Bücher, 1 Rechenbuch, 1 Buch über Tier- und eins über die Menschenkrankheiten. Mehr
brauchte der Bauer nicht.
So gesehen muß der Mensch von heute eigentlich gar kein Buch mehr haben: auf die geistlichen
verzichten wir in der Regel, für die Krankheiten von Mensch und ggf. Tier haben wir Ärzte, und
das Rechenbuch ersetzen wir durch den Computer.
Mit den Vergleichen ist also nichts zu machen. Letztlich muß ich wohl zugeben, daß das Ansammeln
von Büchern in seiner Substanz nichts anderes ist als die Verlagerung des uralten Jagdtriebes in
die eigene Bücherstube, wo man noch der einsame Jäger sein kann und darf. Es bleibt allerdings ein
gewisser Rechtfertigungszwang, denn zur erfolgreichen Jagd gehört nicht nur das Machen von Beute,
sondern die Beute muß auch teilbar sein. Und so deklariere ich meine eigentliche Beute um, zu
Werkzeugen zur Erlangung der echten, der teilbaren Beute Geld. Unter Umständen begnüge ich mich
mit dem Hinweis auf den möglicherweise sicheren Wertzuwachs meiner Werkzeuge und ihre
Veräußerbarkeit, weshalb ich natürlich am liebsten solches gediegener Qualität anschaffe.
Ansonsten heißt es tippen. Womit ich wieder bei der anfänglichen Frage bin. Denn natürlich
durchschaut meine Frau den Schwindel mit dem Werkzeug. Zum Glück ist sie großzügig und gönnt
mir meine Sammeltassen und freut sich mit so gut sie kann.
Bernd-Ingo Friedrich
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